Die Coronapandemie hat viele traditionelle Vorstellungen über die Struktur von Arbeit auf den Kopf gestellt. Von Homeoffice-Tagen, Anwesenheitszeiten im Büro über Wochenarbeitsstunden bis zu neuen Wegen der Zusammenarbeit und zur Entscheidungsfindung – wir waren alle herausgefordert umzudenken. Die Diskussionen darüber, welche Arbeitsweisen und Strukturen gut für ein Unternehmen sind, sind jedoch geblieben.
Im Kern geht es meist um zwei gegensätzliche Modelle: Hierarchie versus Holokratie. Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen diesen beiden Haltungen ist das damit verbundene Führungsverständnis. Unternehmensführungen sollten die Vor- und Nachteile beider Modelle abwägen, wenn sie entscheiden, welches für ihr Unternehmen und ihre Mitarbeitenden am besten geeignet ist.
Hierarchien sind geschlossene Systeme, in denen die Macht bei einigen wenigen liegt. Eine dezentrale Belegschaft könnte zu dezentralen Netzwerken der Macht und zu Unproduktivität führen, so die Befürchtung. Vor Ort scheint es vielen Unternehmen einfacher, traditionelle Hierarchiestrukturen zu festigen. Hierarchien geben uns ein Gefühl von Ordnung und zeigen uns einen klaren Aufstiegsweg. Das sind zwei wichtige Faktoren für Engagement. Klare hierarchische Strukturen können in bestimmten Situationen, wie beispielsweise Krisen oder Notfällen, entscheidend sein, um die richtigen Entscheidungen schnell zu treffen. Aber Hierarchien haben auch Nachteile: Sie können ineffektiv sein, weil sie gute Kommunikation verhindern. Ein Befehls- und Kontrollstil verhindert häufig Innovationen, weil Mitarbeitende dazu neigen, lieber das zu sagen, was die Führungskraft vermeintlich hören möchte, anstatt eine alternative Sichtweise einzubringen.
Das Modell der Holokratie wird von vielen als die Antwort auf Missstände in Unternehmen angesehen. Denn hier ist keine sichtbare Führung vorgesehen. Stattdessen gibt es Mitarbeitenden das, was sie sich wünschen: Die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Es ist verlockend, sich eine Arbeitswelt vorzustellen, in der es keine Hierarchien gibt und die Belegschaft glücklich ist. Aber wie sieht es in der Realität damit aus?
Als Vorzeigemodell für ein Unternehmen mit flachen Strukturen galt Zappos, der zu Amazon gehörende Online-Schuhhändler, der ein radikal flaches System einführte, in dem es keine Stellenbezeichnungen, keine Manager, keine Hierarchien gab. Im Lauf der Jahre kehrte Zappos allerdings wieder zu eher hierarchischen Strukturen zurück, blieb aber ein Unternehmen, das den Unternehmergeist und ein hohes Mass an Selbstbestimmung fördert. Nach Aussage von CEO Tony Hsieh lag das grösste Missverständnis darin, dass viele die neue Managementstruktur als totales Chaos ohne Struktur verstanden.
Auch Blinkist, ein Appentwickler, der Sachbuchinhalte in Kurztexte verpackt, wagte den Versuch und scheiterte daran, dass es zu viele verschiedene Interpretationen von Holokratie gab. Bei der Suche nach neuen Geschäftsideen waren die Mitarbeitenden mehr damit beschäftigt, wie sie in die Struktur passten, als mit der eigentlichen Umsetzung.
Tatsächlich ist es so, dass Hierarchien in unseren Gehirnen fest verankert sind. Das haben wissenschaftliche Forschungen gezeigt. Wir mögen uns zwar darüber beschweren, dass wir geführt werden, aber eigentlich brauchen wir Führung, weil sie uns Klarheit über unsere Rolle und Aufgaben gibt, ein Gefühl dafür, wo wir hingehören und uns einen Weg für Wachstum zeigt. Ohne Hierarchie kann Arbeit als destabilisierend wahrgenommen werden. Wenn ein Unternehmen über die Grösse eines «optimalen Stammes» hinauswächst, die in der Anthropologie mit 50 bis 70 Personen angegeben wird, wird immer deutlicher, dass einige formelle Führungsebenen notwendig sind.
Wo liegt nun also die goldene Mitte zwischen zu viel Hierarchie und zu wenig Holokratie? Geschäftlicher Erfolg hat weniger mit der Struktur eines Unternehmens zu tun, als damit, wie man mit Menschen auf individueller Ebene umgeht. Wenn man Mitarbeitende für eine bestimmte Aufgabe einstellt, ihnen aber nicht sagt, dass sie wahrscheinlich auch andere Aufgaben übernehmen müssen, führt das zu Unzufriedenheit, weil sich die Menschen getäuscht fühlen. Alle sollten ihre Rolle kennen und akzeptieren, dass Fehler passieren können. Wenn alle gemeinsam Verantwortung übernehmen, gedeihen Talente in der Regel in jedem Umfeld, egal ob flach oder hierarchisch.
Die Frage ist also nicht, ob wir Führungskräfte brauchen, sondern wie Führungskräfte wirksam führen können. Wie es ihnen gelingt, eine Vision, eine Kultur der Befähigung und ein gemeinsames Ziel zu schaffen, die gemeinsam zu grossem Engagement und hoher Produktivität führen. Wir sollten offen sein für eine Mischung beider Organisationsmodelle – Hierarchie und Holokratie–, um die Führungsstruktur zu schaffen, die für die jeweilige Unternehmenskultur am besten geeignet ist.